- Parteien: Anfänge der Arbeiterparteien
- Parteien: Anfänge der ArbeiterparteienVon einer klassenbewussten Arbeiterklasse konnte in Deutschland zu Beginn der 1860er-Jahre keine Rede sein; das liberale Bürgertum betrachtete das Arbeiterproblem zunächst als eine Bildungsfrage: Eine bessere Bildung sollte den Arbeiter in die Lage versetzen, auch seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Daher gründeten führende Liberale Arbeiterbildungsvereine.Als im Mai 1863 in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet wurde, bedeutete dies den Beginn einer organisierten Arbeiterbewegung. Sein programmatischer Wegbereiter Ferdinand Lassalle hatte erklärt: »Der Arbeiterstand muss sich als selbstständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen. Die Vertretung des Arbeiterstandes in den gesetzgebenden Körpern Deutschlands — dies ist es allein, was in politischer Hinsicht seine legitimen Interessen befriedigen kann.« Lassalle war der Überzeugung, dass die Lage des Arbeiters nur verbessert werden könne durch die Überwindung des »ehernen und grauenvollen Lohngesetzes«, demgemäß der Durchschnittslohn eines Arbeiters nie über das konventionelle Existenzminimum steigen könne. Lassalle sah nur einen Weg, aus diesem Teufelskreis auszubrechen: Die Arbeiter sollten sich durch freiwillige Assoziationen, also durch Produktionsgenossenschaften, als ihre eigenen Unternehmer organisieren. Lassalle hielt es für die Pflicht des Staats, den Arbeitern die notwendigen Kredite und Kapitalien zur Verfügung zu stellen. Eine derartige Staatshilfe war allerdings nur möglich, wenn das damals in Preußen herrschende Dreiklassenwahlrecht, das die Besitzenden in krasser Weise begünstigte, überwunden und durch das allgemeine, gleiche Wahlrecht überwunden werden würde.Neben Lasalles Organisation wurde von dem hessischen Intellektuellen Wilhelm Liebknecht und dem autodidaktischen Arbeiter August Bebel der Verband der deutschen Arbeitervereine ins Leben gerufen; dieser gab sich auf seinem Nürnberger Vereinstag 1868 ein sozialistisches Programm, das weitgehend mit dem von Karl Marx für die Internationale Arbeiter Association, die Erste Internationale, verfassten Programm übereinstimmte.Vom Eisenacher zum Gothaer ProgrammIm August 1869 wurde in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet, geführt von August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Das Parteiprogramm orientierte sich in wesentlichen Punkten an den in Nürnberg verabschiedeten Prinzipien. Im Mai 1875 konstituierte sich in Go- tha die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, deren Programm ein Kompromiss zwischen den Vorstellungen der Eisenacher und der Lasalleaner war: Einerseits wurde betont, dass die Arbeiterklasse eine Verbesserung ihrer Lage nur durch die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung erreichen könne. Andererseits wurde hervorgehoben, dass dieses Ziel nur mit gesetzlichen Mitteln erkämpft werden solle. Die Forderung nach Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts bildete den ersten Punkt des Parteiprogramms.Die Unterdrückung der SozialdemokratieDie Gründung des Deutschen Reichs 1871 war ihrem Wesen nach ein politischer Kompromiss zwischen der politisch tonangebenden preußischen Aristokratie und dem liberalen Bürgertum. Dabei verzichtete das Bürgertum praktisch zugunsten des Adels auf seine politische Mitbestimmung und tauschte dafür weitgehendes Entgegenkommen für seine wirtschaftlichen und sozialen Interessen ein. Dieser Staat ließ daher strukturell wenig Raum für die Forderungen der Arbeiterschaft nach politischer und wirtschaftlicher Emanzipation. Die Unternehmer traten den Arbeitern überwiegend mit dem »Herr-im-Hause-Standpunkt« gegenüber. Berüchtigt waren die »schwarzen Listen«, die alle Arbeiter erfassten, die sich an Demonstrationen zum 1. Mai beteiligten oder Mitglied einer Gewerkschaft oder der Sozialdemokratischen Partei waren.Mit ihren Forderungen nach dem gleichen und geheimen Wahlrecht, nach Vereins- und Pressefreiheit und nach tatsächlicher Kontrolle der Regierung durch das Parlament waren die Sozialdemokraten die einzige Partei, die eine grundsätzliche Kritik an den bestehenden politischen und sozialen Verhältnissen übte. Gerade dies machte sie zur Zielscheibe des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Als 1878 zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. von Tätern verübt wurden, die nichts mit der Sozialdemokratischen Partei zu tun hatten, ergriff Bismarck diese Gelegenheit beim Schopfe und ließ das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« verabschieden. Dieses Gesetz ermächtigte die Regierung, alle sozialistischen Organisationen, die die bestehende gesellschaftliche Ordnung bekämpften, sowie sozialdemokratische Zeitungen, Schriften oder Versammlungen zu verbieten. Mit seinen hohen Strafen und Willkürakten brachte das bis 1890 geltende Sozialistengesetz Unglück und Verfolgungen über viele Arbeiterfamilien, verhinderte aber nicht eine Verdreifachung des sozialdemokratischen Stimmenanteils bei den Reichstagswahlen bis 1890. Gleichzeitig mit dem Sozialistengesetz schuf Bismarck mit der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1884 und der Alters- und Invalidenversicherung 1889 das damals modernste Sozialgesetzgebungswerk. Ziel dieser Maßnahmen war es, der Sozialdemokratie »die Wurzeln abzugraben«, die Arbeiter durch sozialpolitische Maßnahmen für den Obrigkeitsstaat zu gewinnen.Das Erfurter Programm und der RevisionismusDas nach den Erfahrungen mit der staatlichen Unterdrückung rein marxistische Erfurter Programm von 1891 erklärte die Aufhebung der Klassengegensätze durch Überwindung der bestehenden Produktionsverhältnisse zum vorrangigen Ziel der Partei. Im ersten Punkt des Programms wurde daher erneut die Forderung nach dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht erhoben. Bei aller marxistisch-revolutionären Programmatik und radikalen Rhetorik war die Partei bestrebt, positiv innerhalb des bestehenden Staates mitzuarbeiten. Zugleich wurde um die Jahrhundertwende immer deutlicher, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung keineswegs eine immer weiter gehende Verarmung der Arbeiterschaft mit sich gebracht, sondern im Gegenteil dank ihrer außerordentlichen Produktivitätsfortschritte unter dem gleichzeitigen Druck der Gewerkschaften eine unverkennbare Besserung der materiellen Situation der Arbeiter bewirkt hatte.Es stellte sich nunmehr die Frage, ob tatsächlich erst der vollständige Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung den Arbeitern einen Anteil am Mehrwert bringen konnte oder ob dieses Ziel nicht auch durch schrittweise Reformen im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung erreicht werden konnte. Der »Revisionismus« eines Eduard Bernstein zog die nahe liegenden Konsequenzen. Bernstein verwarf die marxistische Theorie vom bevorstehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung und trat für die aktive Mitarbeit in den Volksvertretungen ein. Unter dem Einfluss von Bebel, Liebknecht und Kautsky lehnten die sozialdemokratischen Parteitage den Revisionismus allerdings mehrfach ab und bekannten sich stattdessen zu den Grundsätzen des Klassenkampfs. Beeinflusst von den pragmatischen Gewerkschaften, war die tatsächliche Politik der Sozialdemokratie allerdings zunehmend reformistisch. Die staatliche Sozialpolitik und der praktische Revisionismus von Partei und Gewerkschaften führten schließlich dazu, dass die Sozialdemokratie 1914 für die Kriegskredite stimmte, da sie nicht den »Ausbeuterstaat«, sondern das »Vaterland« in Gefahr sah.Arbeiterbewegung in Westeuropa, Russland und den USAZum Fanal und bis heute zum Mythos der sozialistischen Bewegung in Frankreich und darüber hinaus wurde der Aufstand der Pariser Kommune im März 1871. Die bewaffnete Bürgerwehr der Stadt Paris erhob sich spontan und ohne klares politisches Ziel gegen die eigene, vor dem deutschen Feind kapitulierende Regierung.Der Aufstand der Pariser KommuneDer von den Volksmassen getragene Verband der Nationalgardisten wollte die Waffen behalten, womöglich, um sich der Besetzung von Paris durch die Preußen zu erwehren. Die einzige wirtschaftliche Maßnahme, die man als sozialistisch bezeichnen könnte, bestand in der Registrierung aller von ihren Besitzern stillgelegten Fabriken und der Aufstellung eines Plans für ihre Wiederinbetriebsetzung durch Produktionsgenossenschaften der entlassenen Arbeiter. Die politischen Maßnahmen der Kommune, wie zum Beispiel die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und die Abberufbarkeit der Mandatsträger durch die Wähler, waren da schon radikaler.Die Sozialisten der Internationale nahmen in der zweiten Phase an der Bewegung teil, hatten aber im gewählten Rat keinerlei Mehrheit. Schon wenige Tage nach ihrer Niederschlagung im Mai 1871 wurde die Kommune zu einem Mythos, als Karl Marx sie eine »Regierung der Arbeiterklasse« nannte. Engels wollte in ihr 20 Jahre später sogar eine »Diktatur des Proletariats« erkennen. Tatsächlich aber waren Handwerksmeister, Apotheker, Journalisten, Ingenieure, Fabrikanten, Kaufleute, Rechtsanwälte und einige wenige Handwerksgesellen Repräsentanten der Kommune; aber nicht ein einziger Handwerker oder Werkmeister aus einem Industriebetrieb, kein Arbeiter aus dem Druckereigewerbe oder der Bekleidungsindustrie war unter ihnen. Sie verstanden sich auch nicht als Beauftragte des kollektiven Klassenkampfes gegen das Kapital.Politische Strömungen in der französischen ArbeiterbewegungIn der französischen Arbeiterbewegung gab es zunächst mindestens fünf Richtungen. Der 1879 gegründete Parti Ouvrier Français hatte nahe Verbindungen zu Marx und Engels und verfolgte die gleiche politische Linie wie die deutsche Sozialdemokratie. 1882 spaltete sich eine revisionistische Gruppe unter Paul Brousse ab, die Possibilisten. Eine linke syndikalistische Abspaltung von 1890 trat für gewaltsame Streikaktionen ein. 1901 und 1902 entstanden zwei Parteien: der reformistische, den Parlamentarismus bejahende Parti Socialiste Français um Jean Jaurès und der marxistische Parti Socialiste de France um Jules Guesde. 1905 kam es unter dem Druck der Zweiten Internationale zum Zusammenschluss der beiden rivalisierenden Parteien zur Section Française de L'Internationale Ouvrière. Damit hatte die marxistische Richtung über die reformistische gesiegt.Reform ohne Klassenkampf in Großbritannien und den USAIn Großbritannien organisierte sich die Arbeiterschaft nach dem Zusammenbruch des Chartismus vor allem in den Trade Unions und versuchte ihre politischen Ziele wie Demokratie und Sozialpolitik im Anschluss an die Liberale Partei zu erreichen. Seit den 1880er-Jahren zeigten wachsende Kreise des gebildeten Bürgertums und der organisierten Arbeiterschaft zunehmende Abneigung gegen den liberalen Unternehmerradikalismus. Gesellschaften und Vereine wie die Christian Socialists, die Social Democratic Federation und vor allem die von Marx beeinflusste, in ihren Zielen aber antimarxistische Fabian Society verlangten eine Bodenreform, eine Kontrolle des Reichtums, steuerpolitische Eingriffe in das Privatvermögen und in die freie Konkurrenz. Das Ziel der Fabian Society war die Schaffung eines Wohlfahrtsstaats. Die eigentliche Gründung der Labour Party als einer von den Liberalen unabhängige Arbeiterpartei fällt schließlich in das Jahr 1900.In den USA fehlt eine selbstständige Arbeiterpartei bis zum heutigen Tag. Stattdessen versuchen dort die Gewerkschaftsführer Einfluss auf die alten Parteien, vor allem die Demokratische Partei auszuüben. Das Modell des Klassenkampfs entfaltete für die amerikanische Arbeiterschaft eine geringe Attraktivität. Die Geschichte ihres Landes erfüllte die amerikanischen Industriearbeiter mit dem Bewusstsein individueller gesellschaftlicher Freiheit und der Aufstiegsmöglichkeit des Einzelnen in einem großen, reichen Land. Ansätze eines Sozialismus europäischer Prägung gab es 1901 mit der Gründung der Socialist Party.Richtungskämpfe in der russischen SozialdemokratieDer Kampf um die richtige Interpretation des Marxismus tobte besonders scharf in der russischen Sozialdemokratie. Georgij Walentinowitsch Plechanow, der eigentliche Begründer der russischen Sozialdemokratie, war der Meinung, eine proletarische Revolution könne erst nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus in einer voll ausgebildeten industriellen Gesellschaft verwirklicht werden. Der jüngere Julij Martow vertrat gewerkschaftliche Auffassungen, seine Theorien deckten sich weitgehend mit jenen der westeuropäischen Reformisten.Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, vertrat demgegenüber die Ansicht, die sozialistische Revolution müsse an der schwächsten Stelle des Weltkapitalismus erfolgen, und das sei Russland. Eine liberale Revolution sei deshalb sofort bis zur Diktatur des Proletariats weiterzutreiben. Dabei sollte mangels einer breiten klassenbewussten Arbeiterschaft eine streng hierarchisch organisierte Elite als »Avantgarde des Proletariats« die Führung übernehmen. Auf dem Parteitag 1903 in London schloss sich die Mehrheit der russischen Sozialdemokraten der Position Lenins an.Die Schwäche der sozialistischen Arbeiterbewegung in EuropaSchon das »Kommunistische Manifest« hatte mit dem Ruf »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« den internationalen Charakter der Arbeiterbewegung betont. 1864 wurde unter aktiver Mitarbeit von Karl Marx in London die Erste Internationale gegründet, die jedoch durch die Spannung zwischen revolutionären Anarchisten und Marxisten zerrissen war, sich bereits 1872/73 spaltete und 1876 wieder auflöste. 1889 wurde die Zweite Internationale gegründet. Sie vermochte weder zu den Thesen des Reformismus eine eindeutige Position zu beziehen noch eine verbindliche Entscheidung darüber herbeizuführen, wie sich die nationalen Arbeiterparteien im Falle eines Kriegs verhalten sollten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sie damit praktisch zu bestehen aufgehört. Wahlerfolge wie diejenigen der deutschen Sozialdemokraten konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die europäische sozialistische Arbeiterbewegung durch Richtungskämpfe um die Jahrhundertwende stark zerrissen war. Dort, wo die sozialistischen Parteien am erfolgreichsten waren, beteiligten sie sich wie in Deutschland in reformerischer Absicht an der alltäglichen parlamentarischen Praxis.Prof. Dr. Hans-Werner Niemann, OldenburgGrundlegende Informationen finden Sie unter:Arbeiterbewegung: Anfänge der Arbeiterbewegung
Universal-Lexikon. 2012.